Eine diplomatische Kolchose

 

 

 

Als ich eines schönen Tages in einem plötzlichen Anfall von Übermut das Treppengeländer der Botschaft hinunterrutschte, verstauchte ich mir prompt den Knöchel. Der Hausarzt verordnete Bettruhe, und Botschafter Bullitt kaufte mir eine junge deutsche Schäferhündin, um mich bei Laune zu halten. Botschaftsrat Wiley sprach immer nur von der »Geheimpolizei«-Hündin, und ich mußte zugeben, daß sie den deutschen Schäferhunden, die ich bisher kannte, nicht so ganz genau glich. Auf die Dauer wuchs sie sich dann zu einem belgischen Schäferhund, einem Groenendael, aus. Unser aller Verblüffung war groß, besonders die meine, denn ich hatte im ganzen Leben noch von keinem Groenendael gehört.

»Midget« (wie ich sie nach einer kleinen Moskauer Ballerina nannte) war etwas niedriger als der übliche deutsche Schäferhund und viel leichter. Ihr Fell war jettschwarz und lang und seidig — vorausgesetzt, daß ich es gerade gekämmt hatte. Sie benahm sich genau wie jeder andere Junghund und zerfetzte pünktlich alle meine Schuhe und beinahe alle des Botschafters. Sehr früh schon wurde sie in die höchste Moskauer Gesellschaft eingeführt. Beim ersten Bankett, an dem sie teilnehmen durfte, saß sie auf Marschall Woroschilows Schoß, wo es ihr — wie bereits beschrieben — gelang, ihm die Breeches anzufeuchten. Der Marschall verübelte es ihr nicht, sondern nahm sie nach erfolgter Säuberung wieder auf seinen Schoß zurück.

Doch sie wuchs heran, und mit ihr wuchs der Schaden, den sie anrichtete. Schließlich stand ihre Fähigkeit, in unmögliche und sogar gefährliche Situationen zu geraten, in gar keinem Verhältnis mehr zu ihrer Selbstbeherrschung, und ich sah mich gepeinigt nach einem Dresseur um. Aber alle Hundedresseure in Moskau gehörten der GPU an, und ich konnte erst aus meinen Nöten erlöst werden, als sich diese Institution liebenswürdigerweise des Kapitalistenhundes erbarmte.

Drei Monate lang ging nun Midget zu Stalins Geheimpolizei in die Lehre.

Bei der Rückkehr war sie stolzer Träger des hündischen Gegenstücks zum sowjetischen »Dr. phil.«. Das Diplom bestand in einer großen rot-gelben Emaille-Plakette, auf deren Rückseite Name und Prüfungsergebnis (»mit Auszeichnung«) eingraviert waren.

Diese Plakette sollte sich später einmal als sehr nützlich erweisen. 1939, kurz vor Kriegsausbruch, war ich in Hamburg stationiert und wohnte im Hotel Atlantic. Als ich eines Abends besonders müde und abgespannt heimkam, erfuhr ich, daß Hermann Göring für das Wochenende ins Atlantic übergesiedelt war. Infolgedessen durfte ich meinen Wagen nicht an der üblichen Stelle parken und durfte den Haupteingang erst nach gründlicher Inspektion seitens der Polizei benutzen. Anschließend konnte ich mich kaum durch den Schwarm ordenbesäter, bänderverzierter, farbenprunkender Göringbegleiter bis zum Fahrstuhl durchquetschen. In meinem Zimmer angelangt, war ich dann auf Göring und seinen Rattenschwanz komischer Begleiter so wütend, daß ich mir nach dem Umkleiden den roten Seidengürtel meines Bademantels wie das Band des St.-Georgs-Ordens über Brust und Schulter des Abendanzuges schlang. Darauf bespickte ich ihn kurz entschlossen mit sämtlichen Nadeln, die ich erwischen konnte: Krawattennadeln, Kragennadeln, Sicherheitsnadeln, Nähnadeln und Stecknadeln. In der Mitte prangte Midgets sowjetischer »Dr. phil.«. Im Fahrstuhl musterten mich zuerst neugierige Blicke, doch als die Mitfahrer sich die Dekorationen näher betrachteten, glichen ihre Gefühle — wie ich im stillen gehofft hatte — ganz offensichtlich den meinen bei der Ankunft im Hotel. Immerhin fletschten sie nur die Zähne und fraßen ihren Ärger in sich hinein, so daß ich mit dem Leben — und dem kompletten Seidengürtel — davonkam.

Unter den Tricks, die Midget bei der GPU gelernt hatte, machte besonders einer ihre diplomatische Karriere zu einer förmlichen Siegeslaufbahn. Wenn man ihr ein Stück Zucker vorhielt und ihr erzählte, es sei ein Geschenk von Hitler (oder Fritz Müller oder Otto Schulze), drehte sie die Nase verächtlich weg und beschnupperte es nicht einmal prüfend. Man hätte die Namen der halben Welt mit dem gleichen Ergebnis nennen können. Machte man aber irgendwann mit dem kleinen Finger eine ganz bestimmte, winzige Bewegung, schnappte sie gleich gierig zu. Ich habe diesen Trick allen möglichen Leuten — Königen und Schornsteinfegern — vorgeführt und selbstverständlich das Zeichen immer dann gemacht, wenn der Name der betreffenden Person fiel. Niemals ist mir jemand begegnet, dessen Ego sich nicht bei Midgets Zuschnappen wie ein Luftballon blähte. Sie schienen alle anzunehmen, ich säße halbe Nächte lang auf, um Midget ihre Namen beizubringen. Nach dieser Erfahrung möchte ich fast behaupten, daß den meisten Leuten mehr daran liegt, bei einem Hund in gutem Geruch zu stehen als bei der Mehrzahl ihrer Mitmenschen.

Nachdem wir etwa ein Jahr in Moskau waren, mieteten wir Junggesellen der Botschaft uns eine »Datscha« — das ist eine echt russische Sommervilla auf dem Lande. Zur größten Erleichterung des Botschafters wurde auch Midget dorthin gebracht, wo sie dann den ganzen Rest ihrer Moskauer Zeit verblieb.

Kurz darauf bekam sie Gesellschaft. Die Tochter des japanischen Botschafters Togo schenkte mir nämlich einen kleinen Pekinesen. Nur um zu zeigen, daß ich nicht antijapanisch eingestellt war, nannte ich ihn nach dem Spender »Togo«.

Ich hielt den Namen überdies für sehr hübsch — bis zu dem Tage, an dem die gesamte Togo-Familie zu einer Teevisite in unser Landhaus kam.

Die Datscha war damals der etwas sorglosen und unbedenklichen Obhut eines alten russischen Dieners namens Georg anvertraut, der eine bemerkenswerte Karriere hinter sich hatte: Sooft er im Leben vor eine Wahl gestellt worden war, hatte er die falsche Entscheidung getroffen! Vor der Revolution war er Hosenbügler gewesen und hatte es auf die eine oder andere Weise geschafft, sich in London zu etablieren. Als die Revolution ausbrach, entschied er, Revolutionen seien eine wunderbare Sache, und kehrte über Sibirien nach Hause zurück, um den Sowjets unter die Arme zu greifen. Per Zufall traf er in Sibirien auf Koltschaks Truppen und verbrachte den Rest des Bürgerkrieges damit, gegen die Sowjets zu kämpfen. Nach kurzem Aufenthalt in den Salzbergwerken tauchte er wieder auf und entschied sich diesmal für die Zusammenarbeit mit amerikanischen Konzessionären, die von der Regierung geduldet wurden, weil durch sie ein bißchen dringend benötigtes ausländisches Kleingeld ins Land kam. Sowie genug Kleingeld hereingekommen war, wurden die Konzessionen liquidiert, und Georg wanderte auf drei Jahre in das berüchtigte Gefängnis von Solowjetski am Weißen Meer, um ein wenig nachzudenken. Danach beschloß er, sich Trotzki anzuschließen, bis dieser mit Stalin aneinandergeriet und Georg etwa ein Jahr in Zentralasien zubringen mußte. Zurückgekommen, fand er, die Amerikaner seien doch nette Leute, selbst wenn sie einen vermutlich in Schwierigkeiten brachten. Ergo schloß er sich dem Internationalen Nachrichten-Dienst von Hearst an, der damals wohl unpopulärsten Institution in ganz Rußland. Nicht viel später wurde der IND liquidiert — genauso wie vorher Koltschak, die Konzessionäre und Trotzki. Georg jedoch war mittlerweile ein alter Mann geworden und entschied nunmehr, zum Weggehen fehle ihm jegliche Lust. Er bat uns, ihn zu uns in die Datscha zu nehmen, wo er für den Rest seines nützlichen Daseins als Butler und Hosenbügler verblieb.

Doch das alles steht bis jetzt nur in sehr lockerem Zusammenhang mit dem Pekinesen oder der Togoschen Teevisite. Unseligerweise — und damit kommen wir auf den Kern der Sache — war die Teezeit zugleich Fütterzeit für die Hunde. Während wir unter den Bäumen sitzend uns der höflichen Konversation mit dem japanischen Botschafter und seiner Familie hingaben, marschierte Georg mit einer Schüssel voll Abfällen vom Haus her quer über den Rasen und lockte in klagenden, langgezogenen Tönen den Hund: »Toogoo, Toogoo, Toogoo!« Am Teetisch herrschte überraschtes, pikiertes Schweigen. Georg begriff plötzlich (ein bißchen reichlich spät), was er angestellt hatte, und sauste wie ein geölter Blitz ins Haus zurück.

Am nächsten Tag bat mich der Doyen des Diplomatischen Korps, der deutsche Botschafter Graf von der Schulenburg,

zu sich.

»Stimmt es«, fragte er streng, »daß einer Ihrer Hunde nach dem japanischen Botschafter benannt ist?«

Ich sagte: jawohl, und fügte hinzu, es sei eine alte amerikanische Sitte, wohlwollende Gefühle für einen Freund dadurch auszudrücken, daß man einen Hund nach ihm benennt. Schulenburg runzelte skeptisch die Stirn.

»Na — eine japanische Sitte ist es jedenfalls nicht, denn der japanische Botschafter tobt wie ein Irrer!«

Ich sagte, ich bedauerte das außerordentlich, doch könne schließlich niemand erwarten, daß ich außer den amerikanischen nun auch noch sämtliche japanischen Volksbräuche kenne. Außerdem: Der Hund sei jung und unerzogen. Wechselte ich jetzt aus heiterem Himmel seinen Namen, so würde dadurch nicht nur seine weitere Erziehung unmöglich gemacht werden, sondern er zöge sich auch vermutlich einen unheilbaren psychischen Komplex zu. Doch Schulenburg blieb eisern, und ich erklärte mich nach vielem Hin und Her bereit, um des lieben Friedens willen den Namen in Hobo zu ändern. Vielleicht hätten wir Glück, und der Pekinese würde es nicht merken oder sich doch zumindest über zwei neue Konsonanten nicht allzusehr aufregen.

Als Botschafter Togo wieder nach Tokio zurückkehrte, wo er später Außenminister wurde, fragte ich Schulenburg auf dem Bahnsteig, ob ich Hobo nunmehr nicht wieder in Togo umwandeln könnte. Schulenburg meinte nach sorgfältiger Erwägung, es ließe sich vielleicht machen, wenn ich es nicht allzu vielen Leuten auf die Nase bände.

Einige Jahre später kam Sir Stafford Cripps als britischer Botschafter nach Moskau und bat mich, ihm bei der Suche nach einem jungen Polizeihund behilflich zu sein. Ich nahm meine früheren Hundefreunde-Verbindungen wieder auf und bekam eine Auswahlkollektion zugesagt. Ein paar Tage später traten diese Freunde mit einer Koppel Airedales an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sir Stafford wünscht einen Polizeihund«, knurrte ich ärgerlich.

»Oh, das sind Polizeihunde«, war die gekränkte Antwort, »und zwar verdammt scharfe. Daß sie keine deutschen Schäferhunde sind, heißt ja noch nicht, daß sie keine Polizeihunde sein können! Abgesehen davon nahmen wir an, Sir Stafford lege Wert darauf, gerade keinen deutschen Schäferhund zu haben — wo er doch schließlich mit Hitler Krieg führt!«

Sir Stafford würdigte ihre Argumente und nahm einen der Airedales. Er nannte ihn Joe, und niemand muckste. Aber er war auch ein Botschafter, und ich war nur Legationssekretär.

Als die Deutschen schließlich Rußland angriffen und uns aus Moskau vertrieben, ließ ich Togo zurück, weil ich dachte, die Deutschen würden sich vielleicht über einen japanischen Pekinesen freuen. Aber sie sind nie bis in die Hauptstadt gekommen, und ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, was aus Togo geworden ist. Der alte Graf von der Schulenburg wurde wegen seiner Teilnahme an der Verschwörung des 2,0. Juli erhängt; Botschafter Togo wurde als Kriegsverbrecher zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt und starb 1950 während der Haft in Tokio. Georg starb friedlich in einem Altersheim bei Moskau.

Die Datscha war nichts weiter als ein leicht vergrößertes hölzernes Wochenendhaus, das von dem litauischen Diplomaten, von dem wir es übernahmen, »modernisiert« worden war. Er hatte einen Brunnen gegraben, im Haus Pumpe und Becken installiert, ein Badezimmer mit Dusche eingebaut, Garten, Tennisplatz und Ententeich angelegt und — am allerwichtigsten — rundum einen hohen Holzzaun gezogen, der die Datscha vom nächsten Dorf abschloß.

Das Durchfahren der großen hölzernen Tore nach einem langen Tage voll angestrengtester Versuche, »die Russen zu verstehen«, hatte immer etwas ungemein Beruhigendes an sich. Sobald sich diese Tore hinter einem schlossen, schienen Sowjetunion, Fünfjahresplan und — o Wunder! — die GPU sich in nichts aufzulösen.

Zuletzt bauten wir der Datscha noch einen Stall für drei Pferde an. Monatelang suchten, schacherten, lamentierten und bestachen wir rechts und links, ehe wir endlich drei sogenannte Reitpferde erwischten. In Wirklichkeit waren es nur etwas leichtere Karrengäule; wir taten, als merkten wir den Unterschied nicht, aber nach einigen Jahren unentwegten Weitersuchens und -handelns gelang es uns, sie gegen ein paar ziemlich brauchbare Pferde einzutauschen.

Die größte Schwierigkeit war, einen anständigen Stallburschen zu finden. Entweder verkauften sie prompt unseren ganzen Hafer an die örtlichen Droschki-Fahrer, oder aber sie richteten sich selber samt etlichen Frauen und Kindern in unserem winzigen Stall häuslich ein und beschlossen, fortab von den Erträgnissen unseres Gartens zu leben. Nachdem wir ein gutes halbes Dutzend hinausgepfeffert hatten, fanden wir endlich Panteleimon, einen der hervorragendsten Stallburschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Panteleimon war ein kleiner, O-beiniger Kavallerist der alten Schule. Auf dem Kopf trug er beständig eine verblichene zaristische Soldatenmütze und im Mundwinkel eine elegante Elfenbein-Zigarettenspitze. Panteleimon versicherte uns, daß wir ihm — abgesehen von allen seinen anderen Tugenden — absolut blindlings vertrauen könnten, als einem perfekten Gentleman aus Seiner Kaiserlichen Majestät Kavallerie. Als solcher, setzte er uns beredt auseinander, lege er so großen Wert darauf, sich in Gesellschaft anderer Gentlemen zu befinden, daß er praktisch für nichts arbeiten wolle. Er habe eine selbst für einen Russen ungemein weite Seele, und das kleinlich-enge Leben, das er inmitten des Proletariats zu führen gezwungen sei, ersticke ihn geradezu. Ehe wir uns wieder voneinander trennten, hatte Panteleimon es immerhin fertiggebracht, ein Grundstück neben der Datscha zu erwerben und dort eine dreiräumige Hütte zu errichten. Auf die Frage, wie er sich das habe leisten können, erwiderte er bescheiden: durch seiner eigenen Hände Fleiß. Als er sich um den Posten bewarb, hatte er uns versichert, er sei Junggeselle und sei es auch zeit seines Lebens gewesen. Innerhalb vier Tagen nach seiner Ankunft entdeckten wir jedoch auf dem Heuschober eine bei uns später als »Babuschka« bekannte alte Frau. Auf unsere vorsichtigen Erkundigungen nach Herkunft und Aufenthaltszweck zwirbelte Panteleimon nur seinen langen grauen Kavallerieschnurrbart und meinte beiläufig: oh, eine gute Freundin seiner Familie, die ihn besuchte! Als uns die Deutschen fast fünf Jahre später aus Moskau verjagten, war sie immer noch zu Besuch da.

Eines Tages luden wir einen alten deutschen General zu einem Ritt ein. Während Panteleimon die Pferde sattelte, erzählte er unserem Gast, er habe an der Schlacht bei Tannenberg teilgenommen. Der Deutsche spitzte die Ohren und fragte ihn, welcher russischen Division er angehört habe. Er selber hatte ebenfalls bei Tannenberg gekämpft.

»Seiner Kaiserlichen Majestät fünfter Garde-Kavallerie-Division!« schmetterte Panteleimon.

»Ja, aber wie sind Sie denn da entkommen?»erkundigte sich der General verblüfft. »Zufällig weiß ich, daß gerade diese Division bis auf den letzten Mann aufgerieben oder gefangengenommen worden ist.«

»Sir«, sagte Panteleimon, sich in die Brust werfend, »mein Vater hat mich zum Rennreiter erzogen!«

Als wir die Pferde bekamen, konnten wir die örtlichen Autoritäten davon überzeugen, daß wir eine Kolchose bildeten und infolgedessen berechtigt seien, das Futter zu billigen Regierungspreisen zu kaufen. Zwar hatten die Ortsgewaltigen zunächst gezögert, doch als wir sie fragten, ob sie vielleicht jemals von einem Privatstall in der Sowjetunion gehört hätten, bekannten sie entsetzt, sich ein solches Phänomen überhaupt nicht vorstellen zu können. Weiterhin gaben wir zu bedenken, welch seltsamen Eindruck es machen würde, wenn die landwirtschaftlichen Statistiken plötzlich vom Bezirk Moskau berichten müßten, er sei nur mehr zu 99,9 Prozent kollektiviert! Sie kratzten noch ein bißchen auf ihren Schädeln herum, brummten aber schließlich ihr Einverständnis, und wir bekamen unseren Hafer zum Regierungspreis. Einige Jahre lang klappte die Sache vorzüglich, doch dann begann irgend so ein schnüffelnder Inspektor unsere rechtliche Lage etwas näher zu betrachten, ließ die Juristen ein Weilchen ihre dicken Bücher wälzen und traf den Entscheid, daß wir in Wirklichkeit reiche Grundbesitzer oder Kulaken und lediglich aufgrund unserer diplomatischen Immunität noch nicht liquidiert worden seien. Kulaken jedoch, so verordnete er, könnten Hafer nur auf dem freien Markt kaufen.

Mittlerweile war die Datscha zum Treffpunkt fast sämtlicher Moskauer Diplomaten geworden. Zweimal wöchentlich empfingen wir Gäste. Kollegen aus der Hälfte aller Länder der Welt strömten zu uns hinaus, um im Sommer Tennis zu spielen, im Winter Ski oder Schlittschuh zu laufen. Für ihre Aufwartung hielten wir einen Stab von acht bis zehn dienstbaren Geistern, und der Keller mußte natürlich andauernd wieder aufgefüllt werden. Zur Bestreitung der Unkosten steuerte Uncle Sam die fürstliche Summe von hundert Dollar jährlich als »Aufwandsentschädigung« bei. Sie reichte genau für eine Monatsmiete aus.

Als uns der Pferdefutter-Trust mitteilte, daß wir unser Heu und Stroh künftig auf dem freien Markt zu kaufen hätten, wo die Preise etwa viermal so hoch waren als die bisher bezahlten, sah es verteufelt danach aus, als würden wir im Endeffekt doch wie alle anderen Kulaken liquidiert werden. Doch einige unserer Kollegen kamen uns zu Hilfe. Die Engländer und die Deutschen erklärten sich bereit, je ein halbes Pferd zu kaufen. Dieses System bewährte sich großartig bis zum Kriegsausbruch 1939. Da freilich erhob sich umgehend die Streitfrage, welcher Teil des Pferdes wem gehöre. Die Tatsache, daß wir den Mist an einen Kolchos verkauften, machte die Sache noch schwieriger, da sich aufgrund dessen bedeutende Differenzen in den Unterhaltskosten von Kopf- und Schwanzende ergaben. Wochenlang tobten die Auseinandersetzungen hin und her, noch weiter kompliziert dadurch, daß die Deutschen nicht mehr mit ihren früheren englischen Freunden sprechen konnten und die Engländer strikt instruiert waren, »zu grüßen, aber nicht zu lächeln«, wenn sie ihren feindlichen Kollegen begegneten. (Ich persönlich habe es immer effektvoller gefunden, zu lächeln und nicht zu grüßen, doch das Foreign Office dachte darüber anders.) Die Streitigkeiten wurden schließlich durch ein Ultimatum meinerseits beigelegt: Als ursprünglicher Käufer nahm ich mir das Recht, zu entscheiden, daß das Pferd längs-und nicht quergeteilt werde. Deutsche und Engländer unterwarfen sich diesem Schiedsspruch, und bis zum deutschen Angriff auf Rußland 1941 blieb alles wie zuvor. Von da ab war es sowieso ziemlich klar, daß die fröhlichen Galopps durch die Gegend gezählt waren und wir uns am besten so schnell wie möglich von unserem Reitstall trennten.

Ich rief den Chef der Roten Kavallerie, Marschall Budjennyi, an und teilte ihm meine Absicht mit, als eine Geste antihitlerischer Solidarität der Roten Armee meine Pferde zu schenken. Er dankte mir wärmstens, erklärte jedoch, die Armee dürfe keine Geschenke annehmen. Ob ich vielleicht mit einem Verkauf einverstanden wäre? Ich sagte, er verwunde und enttäusche mich tief. Dann fiel mir die Höhe meines Bankkontos ein, und ich nahm schleunigst den Kompromiß Vorschlag an. Ein, zwei Tage später erschien in der Datscha ein Offizier, um den Stall abzuschätzen. Ehe wir zu den Pferden gingen, bot ich ihm im Haus ein paar Glas Wodka an. Darauf dauerte es sehr, sehr lange, bis wir ihn auf den Hof bekamen. Nachdem er schließlich doch hinausgewankt war, warf er aus leicht glasigen Augen einen Blick auf die drei Pferde und sagte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, die Rote Armee werde mir den Gegenwert von sechshundert Dollar in Rubeln dafür geben — etwa das Doppelte von dem, was ich selber bezahlt hatte. Am gleichen Nachmittag holten ein paar Soldaten die Pferde ab. Traurig sah ich sie nach so vielen Jahren zum letztenmal aus dem Tor traben, doch als ich auf das Bündel Rubel in meiner Hand blickte, wandten sich meine Gedanken verwundert der Überlegung zu, wie viele Pferde der Offizier wohl gekauft zu haben glaubte.

Dann folgte die Auszahlung der Besitzer. Der Engländer war noch in der Stadt, und ich gab ihm seinen Anteil am Profit. Der Deutsche aber war am Morgen des Angriffs auf Rußland interniert und verschifft worden. Erst 1950 — als ich nach Deutschland versetzt worden war — erwischte ich ihn in einer Düsseldorfer Nachtbar. Ich gab ihm seine hundert Dollar, doch schien er vergessen zu haben, daß er vor neun Jahren in Moskau ein halbes Pferd zurückgelassen hatte.